Ohne Heiligenschein!

Keine Parklücke gibt es mehr vor der Kirche in Bremervörde-Bevern. Und das an einem Sonntagabend, während im Fernsehen die beliebte ,,Lindenstraße" läuft. Was rund 300 Leute, darunter viele Jugendliche aus dem Kirchenkreis, in die Kirche des 1.200-Einwohner-Dorfs zieht, ist ein Gottesdienst besonderer. Mit viel sanfter Musik, Kerzen, einem frechen Interview vor dem Altar und einer zündenden Ansprache. Nichts ist Durchschnitt oder 08/15. Denn der Beverner ,,gottesdienst 08/16", so sein Name, soll an jedem zweiten Sonntag im Monat eine Alternative zum Althergebrachten sein.

Der ,,Regenbogenchor" stimmt auf die Feier ein. Ingrid Schulz, eine Mittvierzigerin, singt im Chor mit. Vor mehr als 20 Jahren war sie aus der Kirche ausgetreten, mit der sie damals nur noch wenig verband. Im vergangenen Herbst aber faßte sie sich, angeregt vom Besuch der 08/16-Gottesdienste, ein Herz und trat wieder ein. Hat sie es bereut? ,,Nein", sagt sie. ,,Die Gemeinschaft ist hier ganz toll, die Atmosphäre überhaupt.

Gelacht wird im Gottesdienst und geklatscht. Die Predigt sei wie eine Talkshow, sagt ein Hamburger Fotograf. Talkshow? Wohl etwas übertrieben. Lachen ist aber nicht verboten, wenn Pastor Heino Masemann

in seiner missionarischen Ansprache gelegentlich flotte Sprüche klopft. Der 34jährige Familienvater, der in Bethel Theologie studiert hat und sich einen ,,lutherischen Pietisten" nennt, redet von Gott, vom Leben im Dorf, kritisiert die trägen ,,Perwoll-Christen" (,,genug gekuschelt") und ruft der Gemeinde zu, daß Gott am Ende der Tage über Heil und Unheil entscheiden werde:

,,Diese Botschaft dürfen wir den Menschen nicht vorenthalten." Keine Drohbotschaft verkündigt der Pfarrer der hannoverschen Landeskirche, sondern eine Frohbotschaft, die nachdenklich macht.

Freude am Experiment

Danach ist wieder die Gemeinde dran: Sie singt Lieder, die leicht ins Ohr gehen, die für traditionelle Kirchgänger eher gewöhnungsbedürftig sind. Der Verzicht auf die klassische Liturgie findet nicht überall im Bremervörder Kirchenkreis Zustimmung. Superintendent Hans-Wilhelm Hastedt: ,,Liturgie ist ein Schatz der Kirche, in dem Wichtiges aufgehoben ist." Deshalb sei es gut, daß 08/16 ein Zusatzangebot sei. Den Gottesdienstbesuchern dürfe allerdings bei aller Freude am Experiment nicht die Freude am Wiedererkennen bekannter Formen und Gesänge genommen werden. ,,Wer in jedem Gottesdienst neue Inhalte anbietet, der wird Kirche abbauen. Wie soll man sich wohlfühlen, wenn man an keiner Stelle mitmachen kann?" Die meisten Besucher jedoch erwecken nicht den Anschein, als fühlten sie sich unwohl in der Kirche. In ,,Speaker´s Corner", einer Ecke zwischen Kanzel und Altar, läßt sich eine 39 Jahre alte Landwirtin interviewen. Sie erzählt von ihrer

Arbeit und ihrer wechselvollen Beziehung zu Gott, die sie vom Desinteresse zum Predigtdienst in der Landeskirche führte.

Wenn Menschen zu Gott finden, dann hat Pastor Masemann sein Ziel erreicht. Volkskirche soll missionarisch sein, sagt er. Sonst sei sie keine Kirche. Vor einigen Jahren sei er auf die Idee gekommen, mit einem Team engagierter Christen unkonventionelle Gottesdienste zu veranstalten. ,,Wir möchten Menschen, die einer von Gott getrennten Ewigkeit entgegengehen, zu einem persönlichen Glauben an Jesus Christus einladen", laute das hochgesteckte Ziel. Zielgruppe sind 15- bis 45jährige, ,,denn sie stehen dem christlichen Glauben vielfach distanziert gegenüber".

Um dieses Ziel zu erreichen. bietet die Gemeinde die 08/16-Gottesdienste an, die die Botschaft des Evangeliums nachvollziehbar, kreativ und zeitgemäß vermitteln" (Masemann). Wer nicht mitbeten kann und noch eine Distanz zu Gott empfindet, singt einfach mit, Musik verbindet die Herzen. Zum Schluß verkündet ein Tontechniker, der Gottesdienst sei aufgezeichnet worden. Wer will, könne eine Kassette kaufen und sich das Ganze noch einmal anhören. Wie die ,,Lindenstraße" auf Video ...

 

Edgar Sebastian Hasse, IDEA Spektrum, 18/1996